Artengel in Heiligenhafen

Meldung 2022

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Am vergangenen Sonntag ist ein neues Artengel-Projekt als Kooperation zwischen Kulturhimmel und kleinkunstkirche in der Ameos-Klinik in Heiligenhafen zur Aufführung gekommen. Dazu hier ein eindrücklicher Bericht von Marco Heinen.

Montag 23. Mai 2022
Meldung 2022

h2. Besonderer Gottesdienst für besondere Menschen Als „Kulturengel“ der evangelischen Nordkirche hat eine Theaterpädagogin Station in der psychiatrischen Ameos-Klinik in Heiligenhafen gemacht. Eindrücke aus einem ungewöhnlichen Gottesdienst. Von Marco Heinen. So ein Andrang ist bei einem Gottesdienst selten. Draußen, an der noch verschlossenen Tür, klopfen einige gegen die Scheibe, als drinnen noch geprobt wird. Endlich geht die Tür auf, und es wird ziemlich laut. Eine Frau trägt eine Puppe im Arm, tätschelt sie wie ein eigenes Kind. Ein Mann mit kariertem Hemd, Strickpullunder und Filzhut bugsiert seinen Rollator ziemlich flott durch zwei Sitzreihen. Er eckt mehrfach an, droht scheinbar jeden Moment zu stürzen. Am Klavier links angekommen, setzt er sich schnell hin, klappt den Deckel der Tastatur hoch und beginnt unmittelbar zu spielen. Er spielt eine Melodie voller Gefühl und Harmonie. Er improvisiert das alles, ist später zu hören. Der Mann war Pianist, bevor ihn seine Krankheit so in Geiselhaft nahm, dass er jetzt dauerhaft in der psychiatrischen Ameos-Klinik in Heiligenhafen lebt. Seine überragende Musikalität hat ihm die Krankheit nicht nehmen können. Andere Patienten hat es härter getroffen. Als der Gottesdienst im Kirchraum der Klinik losgeht, klingelt ein Handy. Es wird noch mehrmals klingeln. Ein junger Mann will ständig aufstehen. Eine Ehrenamtliche nimmt sich seiner an und sorgt dafür, dass er nicht den ganzen Ablauf stört. Auch auf die weinende Frau in der zweiten Reihe, die sonst häufig laut schreit, hat sie ein Auge. Vorne am Altar eröffnet Pastorin Luise Müller-Busse den Gottesdienst als ob nichts wäre. Sie weiß, dass die etwa 40 Frauen und Männer, die sich an diesem Sonntagmorgen versammelt haben, sonst noch sehr viel lauter sein können. „Hier im Gottesdienst finden die Patienten und Bewohner in der Gemeinschaft mit Gott und den Menschen Halt und Ruhe und Geborgenheit“, sagt sie später. Und so hat dieser Gottesdienst zwar ein lautes Grundrauschen, doch er ist auch ungewöhnlich konzentriert. Ein so kraftvolles Glaubensbekenntnis und Vaterunser wie hier ist selten zu hören! Mehrere Gottesdiensteilnehmer hält es nicht an ihrem Platz. Doch dieser Sonntagvormittag ist ohnehin besonders aufregend, weil es eine Tanzvorführung gibt. Sie wurde am Donnerstag zuvor von der Diplom-Theologin und Tanzleiterin Astrid Thiele-Petersen in einem zweitstündigen sogenannten Bibliotanz-Workshop mit einigen Bewohnern vorbereitet. Es geht beim Bibliotanz um einen individuellen Zugang zu Bibeltexten, bei dem eigene Lebenserfahrungen mit in die Bewegung einfließen – in diesem Fall eine Bibelgeschichte, in der Elia einem Engel begegnet. Vom Kulturhimmel des Pädagogisch-Theologischen Instituts der evangelischen Nordkirche ist Thiele-Petersen als „Artengel“ entsandt worden, um Kunst an einen besonderen Ort zu bringen. Ein Projekt, das zu Beginn der Coronapandemie erdacht wurde und in diesem Jahr noch fortgesetzt wird. „Jeden Monat fliegt ein Artengel in eine diakonische Einrichtung“, erläutert Pastorin Claudia Süssenbach, die zum Kulturhimmel-Team gehört. Kinder- und Seniorenheime, Hospizgruppen: viele Menschen in speziellen Lebenssituationen haben Besuch von den Artengeln bekommen. Astrid Thiele-Petersen hat die Kunst des Tanzens mit nach Heiligenhafen gebracht. Nicht im Sinne einer Ballettaufführung. „Es geht nicht darum, dass es hübsch aussieht“, erläutert sie. „Die Schönheit entsteht dadurch, dass die Menschen berührt sind und etwas aus sich heraus bewegen“, so Thiele-Petersen. „Meine Kunst ist im Grunde, dass ich Menschen zu Themen der Bibel in Bewegung bringe und damit Bewegung und Tanz in die Kirche trage. Mit der Tanzkunst animiere ich Menschen, sich und ihren Glauben auszudrücken“, sagt sie. Die Theologin ist selbst überrascht, wie flott das mit diesen Menschen ging, die ihr zuvor völlig fremd waren. Etwa zehn Leute hatten sich angemeldet: Patienten mit weniger starken psychischen Erkrankungen, aber auch einzelne Ehrenamtliche, die sich sonst zum Beispiel Menschen von der geschlossenen Abteilung zum Gottesdienst und zurück begleiten. Fünf Männer, fünf Frauen. Tanzen ist Frauensache? Von wegen! Zwei Stunden Workshop, eine Generalprobe kurz vor dem Gottesdienst und die Aufführung selbst: eine Tanzperformance, die weniger von ihrer Ästhetik, sondern von der Persönlichkeit der Beteiligten lebt. Die Ehrenamtliche an der Orgel, der Pianist vom Anfang dieses Artikels und die Tanzgruppe von Astrid Thiele-Petersen, sie alle bekommen richtig viel Applaus. „Am besten war das Gefühl, wo der Engel kam“, sagt hinterher der Bewohner Daniel Dees (23), der mitgemacht hat und sonst als ehrenamtlicher Küster fungiert. Manfred Föttinger, der nach einer Kopfverletzung mit Orientierungsproblemen kämpft und ebenfalls mitgetanzt hat, hält fest: „Solche Momente helfen mir sehr, dass ich mich besser in mir fühle.“ Föttinger war vor seiner Erkrankung ein Leben lang in der Behindertenarbeit tätig. Diese Arbeit sei „sehr fruchtbar und sehr hilfreich“ gewesen, sagt er. Er weiß, wovon er spricht.